UNItopia News: Brett Smalltalk, Gruppe Maerchen, Artikel 135

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Titel: Die Steinpalme
Artikel: 135                                           Bezug: 0
Verfasser: Amyra                                       Datum: 06.02.05 12:02:13
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Die Steinpalme

Es war Spaetnachmittag, und es war ein Wind aufgekommen, der leise ueber die 
Haare streicht und auf dem Gesicht eine Ahnung von Kuehle hinterlaesst. Es 
war die Zeit, die zum Erzaehlen verfuehrt, ja, die Lust auf Maerchen wurde so 
zwingend, dass alle den weisen Rahman baten, doch eine seiner wundervollen 
Geschichten zu erzaehlen. Der kluge alte Mann laechelte. Er ueberlegte einen 
Augenblick und rief dann: "Wir treffen uns an der Steinpalme, wenn die 
Feuer angezuendet werden" "Steinpalme? Was bedeutet das?" riefen sie hinter 
dem Alten her.
"Sucht sie!" Er sagte dies schon im Fortgehen. "Sucht sie. Der Baum ist 
nicht zu verfehlen."

Noch ehe die Nacht ploetzlich hereinfiel, hatten sie den Baum gefunden. 
Neben den vielen Palmen am Strand, die in ihrer schlanken Schoenheit wie 
winkende Frauen zu sein schienen, stand diese eine etwas abseits, doch so, 
dass ihre starken, dunkelgruenen Blattfaecher die neben ihr stehenden Baeume 
leicht beruehrten. Es war eine eigenartig geformte Palme! Sie wirkte 
gedrungen, mit einem maechtigen Stamm und starken Faechern, die in ihren 
Bewegungen sichtbare Maessigung zeigten und nichts von der Heiterkeit hatten, 
die alle anderen Palmen so weiblich machte. Das Merkwuerdigste aber war die 
Krone der Palme! Der Baum neigte sich mit seinen Blattfaechern zur Mitte 
hin.

"Seht nur genau hin", sagte der alte Erzaehler, der sich in ihre Mitte 
gesetzt hatte, "achtet auf das naechste Wehen des Windes." Und sie konnten 
es sehen!
Als der Wind die Faecher der Baeume etwas auseinander wehte, da sahen sie es: 
im Herzen der Palme, dort, wo sonst die neuen, hellgruenen Triebe aus der 
Mitte des Stammes nach oben draengten, lag ein maechtiger, roetlicher Stein, 
ein Stein, wie unzaehlige am Strand herumlagen. Rahman liess keine Zeit zum 
Fragen. Mit einer weiten Armbewegung zeigte er, dass sich alle im Kreis 
setzen sollten. Ein Feuer wurde in der Mitte angezuendet, und die Nacht kam 
schnell und fiel ueber alles wie ein dunkles Tuch. Der Schein des Feuers 
erreichte den Stamm der grossen Palme und malte auf den Schuppen bizarre 
Zeichen: Wenn eine Flamme hell aufflackerte, konnte man die Krone des 
maechtigen Baumes ahnen.

"Ihr wollt wissen, wie der grosse Stein dort oben hinaufgekommen ist?" 
begann Rahman seine Erzaehlung. "Nun, dies geschah vor vielen, vielen 
Jahren, als diese maechtige Palme noch ein winziger Baeumling war. Hier waren 
damals noch keine Haeuser, und es gab auch noch keinen Brunnen. Nur einige 
Palmen standen am Strand. Ihnen und dem kleinen Palmbaum genuegte das, was 
sie aus dem Sandboden an Nahrung und vom Himmel an Feuchtigkeit bekamen.

Die kleine Palme liebte das Meer und die Musik des Wassers. Sie liebte den 
leisen Wind an den Spaetnachmittagen und die ploetzlich hereinbrechende, oft 
kalte Nacht mit ihrer schattenlosen Dunkelheit. Und sie liebte den Mond in 
den klaren Naechten, dessen Licht harte Umrisse malt und auf dem Meer lange 
Streifen zieht; die eine Ahnung von Unendlichkeit geben. Der kleine Baum 
wusste, dass wenige Meter hinter ihm die Wueste war. Aber er hatte keine 
Vorstellung von ihr, er wusste nicht, was wasserlos und leer bedeutete. Er 
war ein kraeftiger, gluecklicher Palmenschoessling. Bis zu dem Tag, an dem der 
Mann kam!

Er kam durch die Wueste. Er war tagelang umhergeirrt, hatte sein Hab und Gut 
verloren und war vor Durst und Hitze fast um den Verstand gekommen. Seine 
Haende brannten wund vom vergeblichen Graben nach Wasser, und alles an ihm 
war grenzenloser Schmerz. So stand er vor dem Wasser, vor dem endlosen, 
weiten, salzigen Wasser. Der Mann warf seinen ausgedoerrten Koerper in das 
Wasser hinein, aber in seinem Mund mit den aufgerissenen Lippen und der 
dickpelzigen Zunge brannte der Durst, den das Salzwasser nicht stillen 
konnte. Da packte ihn ein rasender Zorn. "Ich habe Anspruch auf Wasser!" 
schrie er. "Ich will leben, weil ich einen Anspruch darauf habe!" Er griff 
nach einem grossen Stein. Sein Zorn gab ihm Kraefte, die sein ausgedoerrter 
Koerper kaum noch hergeben konnte, und er schrie, schrie ueber die 
Grenzenlosigkeit des Wasser, schrie gegen die Unausloeschbarkeit der Sonne, 
schrie gegen die Wueste und hinauf zu den unerreichbaren Kronen der Palmen. 
Drohend hatte er den Stein erhoben. Seine Arme zitterten, und es schien, 
als wolle alle Kraft ihn endgueltig verlassen. Da sah er neben den grossen 
Palmen, zwischen Geroell und Sand, den Palmenschoessling stehen in hellem Gruen
und voller Hoffnung auf jeden neuen Tag.

"Warum lebst du?" schrie der Mann. "Warum findest du Nahrung und Wasser, 
und ich verdurste hier? Warum bist du jung und schoen? Warum hast du alles 
und ich nichts? Du sollst nicht leben!"

Mit aller noch vorhandenen Kraft presste er den Stein mitten in das 
Kronenherz des jungen Baumes. Es knirschte und brach. Es war, als 
vervielfachte sich das Knirschen und Brechen bis in die Unendlichkeit der 
Wueste und des Meeres. Und dann kam eine entsetzliche Stille!

Der Mann brach neben der kleinen Palme zusammen. Zwei Tage spaeter fanden 
ihn Kameltreiber - man erzaehlt, dass er gerettet wurde. Von den Treibern 
hatte sich keiner um den kleinen, zerschmetterten Palmbaum gekuemmert. Er 
war unter der Last des Steines fast begraben, sein Tod schien 
unausweichlich. Seine hellgruenen Faecherblaetter waren abgebrochen, und in 
der heissen Glut der Sonne verdorrten sie schnell. Sein weiches Palmenherz 
war gequetscht, und der grosse Stein lastete so schwer auf dem zierlichen 
Stamm, dass er bei jedem leisen Windhauch abzubrechen drohte. Doch der Mann 
hatte die kleine Palme nicht toeten koennen. Er konnte sie verletzen, aber 
nicht toeten.

Als sich in dem jungen Baum das entsetzliche Geraeusch der brechenden 
Zweige, das Zerfasern der jungen Triebe und der brennende Schmerz 
zusammenballten, als alles eine ungeheure, wolkenaehnliche Masse von Schmerz 
und immer wieder Schmerz war, da regte sich gleichzeitig, daneben, ohne 
Verbindung zum Schmerz und allen zerstoerenden Geraeuschen, eine erste kleine 
Welle von Kraft. Und diese Welle vergroesserte sich, fiel in die 
Wellenbewegung des Schmerzes, wuchs, machte die Pausen zwischen Schmerz und 
wieder Schmerz laenger und laenger, bis die Kraft groesser wurde als der 
Schmerz. Der Baum versuchte, den Stein abzuschuetteln. Er bat den Wind, ihm 
zu helfen. Aber es gab keine Hilfe. Der Stein blieb in der Krone, dem 
Herzen der kleinen Palme, und ruehrte sich nicht.

"Gib es auf", sagte sich die kleine Palme, "es ist zu schwer. Es ist dein 
Schicksal, so frueh zu sterben. Fuege dich! Lass dich selber los. Der Stein 
ist zu schwer." Aber da war eine andere Stimme, die sagte: "Nein, nichts 
ist zu schwer. Du musst es nur versuchen, du musst es tun." "Wie soll ich 
es tun?" fragte die Palme, "der Wind kann mir nicht helfen. Ich stehe 
allein in meiner Schwachheit. Ich kann den Stein nicht abwerfen." "Du musst 
ihn nicht abwerfen", sagte wieder die andere Stimme, "du musst die Last des 
Steines annehmen. Dann wirst du erleben, wie deine Kraefte wachsen." Und der 
junge Baum nahm in all seiner Not seine Last an und verschwendete keine 
Kraft mehr an das Bemuehen, den Stein abzuschuetteln. Er nahm ihn in die 
Mitte seiner Krone. Er klammerte sich mit langen, kraeftiger werdenden 
Wurzeln in den Boden, denn er brauchte mit seiner doppelten Last einen 
doppelten Halt.

Dann kam der Tag, an dem sich die Wurzeln der Palme so tief gesenkt hatten, 
dass sie auf eine Wasserader stiessen. Befreit schoss eine Quelle nach oben, 
und sie hat diesen Platz hier zu einem Ort der Freude und des Wohlstands 
gemacht. Nun, als der Baum festen Halt im Grund hatte und dort dauernde 
Nahrung fand, begann er, nach oben zu wachsen. Er legte breite, kraeftige 
Faecherzweige um den Stein herum. Man konnte manches Mal meinen, dass er den 
Stein beschuetze. Sein Stamm gewann mehr und mehr an Umfang, und mochten 
auch alle anderen Palmen am Strand hoeher und lieblicher sein, der Palmbaum, 
den die Leute bald die Steinpalme nannten, war unbestritten der maechtigste 
Baum. Seine Last hatte ihn herausgefordert, und er hatte den Kampf gegen 
seinen Kleinmut aufgenommen. Er hat diesen Kampf gewonnen. Er hat eine 
Quelle freigelegt, die seither den Durst vieler loescht, und, was sicher das 
Wichtigste ist, der Baum hat seine Last angenommen und hoch hinausgetragen. 
Sie liegt auch heute noch auf seinem Herzen, aber sie ist in seinem Dasein 
an eine Stelle gerueckt, die sie tragbar macht. Nur die aeussere Last 
erscheint uns untragbar. Ist sie angenommen, wird sie ein Teil von uns 
selbst."

Rahman, der Erzaehler, legte beide Haende an den Stamm der grossen Palme. Das 
Feuer war fast niedergebrannt. Die Zuhoerer verliessen einer nach dem anderen 
den Platz. Nur einer blieb noch. Er war spaet gekommen und hatte etwas 
abseits gesessen. Er setzte sich nun zu Rahman, und beide sassen lange ohne 
Worte.

"Ich bin der Mann, der den Stein auf die Palme gedrueckt hat" sagte der 
Mann. Ich hatte es vergessen, doch deine Erzaehlung weckte alles wieder auf. 
Was soll ich tun? Ich fuehle Schuld." "Dann trage diese Schuld, wie der Baum 
den Stein", antwortete Rahman. "Nimm die Schuld an. Versuche, soviel du 
vermagst, davon in Liebe zu verwandeln. Vergiss dabei nicht, dass Liebe 
etwas ist, das man tun muss. Es nuetzt nichts, sie nur zu erkennen, und um 
ihre Notwendigkeit zu wissen. Liebe ist Leben und waechst allein aus dem 
Tun."

Die Maenner sassen noch lange unter der Palme, und es war ein leichter Wind, 
der das Feuer wieder zum Brennen brachte.

(Pet Partisch)