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"So albern koennen auch nur Maenner sein"

von Patrick Fischer

erschienen im BUS (Berliner Stadtzeitung oder so) / Dezember 1996


Immer mehr Grorechner an den Computerzentralen deutscher Universitaeten werden zweckentfremdet - als Tummelplatz fuer Elfen, Drachen und Zauberer!

Etwas verwirrt sehe ich mich um - ich bin durch einen dunklen U-Bahntunnel getappt und finde ich mich ploetzlich in einer Kathedrale wieder, wo ein Druidenmaedchen, ein Gespenst und ein Daemon gerade um ihren toten Freund trauern. Besser nicht stoeren, also gehe ich auf den Marktplatz. Dort lerne ich einen Engel kennen, der aus dem fernen Regensburg angereist ist und der eine Vorliebe fuer Halluzinogene zu haben scheint. Er zeigt mir, wo ich das Amselei finden kann, das der Quacksalber Dr. Salbe so verzweifelt sucht. Unterwegs kommen wir an einem Pharao vorbei, dessen Saenfte von 200 Sklaven getragen wird, und nehmen Reiaus vor einer Horde umherstreifender Orks. Als ich dem Quacksalber sein Ei mitbringe, schenkt er mir zum Dank eine Kaffeeklatsche, ein unentbehrliches Geraet, das es mir erlaubt, mit allen anderen Bewohnern dieser seltsamen Welt aufs herzhafteste zu "labern". Mein Begleiter "pflueckt spontan einige Blumen und wirft sie mir herzlich gratulierend ueber den Kopf. So albern koennen auch nur Maenner sein." Spaeter lasse ich mich noch von einem Gott auf einen Kebap in die Doener-Bude einladen, die er frisch erschaffen hat. Leider habe ich nicht rechtzeitig "Nein Danke" gesagt, als Hassan, der freundliche Doenerverkaeufer mich fragte: "Mit Soe?" So ist der knoblauchtriefende Imbi fuer mich als Vampir ungeniebar...
Irgendwann schaue ich auf, reibe mir die geroeteten Augen und stelle fest, da der Computerraum der ZEDAT in Dahlem bald zu macht, und da ich vier Stunden ununterbrochen mit pochendem Herzen vor dem Monitor gesessen habe. Ich bin ihr erlegen, der legendaeren Suchtwirkung der MUDs...
MUD - Abkuerzung fuer Multiple User Dungeon, "Verlies fuer mehrere Benutzer" - das ist der Oberbegriff fuer virtuelle Welten, die sich auf Universitaetsrechnern in der ganzen Welt eingenistet haben, meist erschaffen von kreativen Informatikstudenten. Ein MUD ist ein Computerspiel, das nur aus Texten besteht. Wie bei den Urahnen der heutigen "Adventure"-Spiele betritt man einen Raum, indem man "gehe nach Norden" eingibt und daraufhin einen Text angezeigt bekommt, was dort im Norden alles zu sehen ist an Gegenstaenden und Leuten, z.B. "Du befindest dich in einer Hoehle. Du siehst einen Drachen, der fauchend auf dich zugeflogen kommt. Eumel, das lustige Erdferkel ist hier." Meistens geht es darum, Raetsel zu loesen und sich mit Monstern herumzuschlagen, um immer mehr Erfahrungspunkte zu sammeln und seinen Charakter, die Rolle die man spielt, immer besser auszuruesten und weiter zu entwickeln.
Der eigentliche Reiz dieser Spiele liegt aber anderswo. Der Mudder ist nicht alleine unterwegs, sondern tummelt sich via Internet mit bis zu hundert anderen Studierenden aus allen Erdteilen in den phantastischen Welten, die vor dem geistigen Auge entstehen, waehrend auf dem Bildschirm die Textzeilen vorbeirasen. Jeder spielt dabei eine bestimmte Rolle, ob man sich als Hobbit versucht oder als Zombie, ob man gut oder boese, maennlich oder weiblich ist, entscheidet allein die Phantasie des Spielers. Wenn zwei Spieler in den selben Raum kommen, koennen sie sich miteinander unterhalten, sich gegenseitig die Haare durchwuscheln, oder aber sich bekaempfen.
Im MUD haben Leute, die es schwer haben, zu anderen Kontakt zu finden (was an den heutigen Massenuniversitaeten ja fast schon die Regel ist) die Chance, spielerisch verschiedene Rollen auszuprobieren, verschiedene Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation kennenzulernen. Mancher schoepft aus diesen Erfahrungen das Selbstbewutsein, auch im "RL", im richtigen Leben, offener auf die anderen zuzugehen. Manchmal entstehen aus den Treffen in der virtuellen Realitaet Kontakte, aus denen reale Freundschaften oder gar Liebesbeziehungen werden - sogar eine Ehe soll sich auf diese Weise schon angebahnt haben, wenn auch mit Hindernissen, da sich bei dem ersten RL-Treffen von Sita aus den U.S.A. und Ovlor aus Deutschland herausstellte, da die College-Studentin im richtigen Leben stark uebergewichtig ist.
Wo es Chancen gibt, gibt es auch Gefahren - leider schaffen es viele Mudder nicht, genuegend Distanz zu bewahren und nehmen das Spiel zu ernst. Die Folge: immer mehr Spieler bekennen, da sie richtiggehend MUD-suechtig sind, da sie einen Kontrollverlust erlitten haben und kaum noch andere Interessen kennen, als taeglich den Zwerg oder Vampir zu spielen. Aus diesem Grund gibt es bei "Unitopia" [http://UNItopia.uni-stuttgart.de], einem der beliebtesten deutschsprachigen MUDs, bereits eine Suchthilfe.
Wenn man sich die rasante Entwicklung der Computertechnologie vor Augen haelt, bei der sich die Rechenleistung jaehrlich fast verdoppelt, und sich einen kuenftigen MUD vorstellt, der nicht aus Texten, sondern aus dreidimensionalen Grafiken besteht, hat man eine ungefaehre Vorstellung von der Droge der Zukunft - eine schoene neue, digitale Welt.


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