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Eine Welt wie jede andere

Detlef Borchers ueber MUDs, MOOs und andere Spielewelten

erschienen in pl@net mai/juni 1996


Vorbei die Zeiten, in denen man in Onlinespielen mit dem X ein U jagte. Der spröde Charme der textbasierten Spiele im Netz wird immer stärker von der Realität eingeholt: Das Spiel wird zur Welt. Bunt und in 3D.

Man geht nicht ohne Avatar: Die persönlich gestalteten Spielwesen erleben einen Boom sondergleichen. Im allgemeinen Wirbel um das Internet sind diese virtuellen Handlungsreisenden die ideale Fusion mehrerer Entwicklungsstränge, sind 3D-Animation, Computerspiel, Chat-Ecke und Kaufhilfe in einem. Avatare heiraten Avatare, gehen in Kirchen, die von Avatar-Seelsorgern betrieben werden. Avatare strollen durch Cybermalls, in denen die Waren umkreiselt werden können. Bank-Avatare helfen bei der Abfrage des (realen) Bankkontos, und Show-Avatare spielen die Oscar-Verleihung im Web auf ihre Art und Weise durch. Besonders gewitzte Sozialforscher sehen im Avatar gar den neuen Sozialisationstyp aufdämmern.

Nichts ist unmöglich
Ein Avatar ist eine Spielfigur, die sich je nach Software mehr oder minder phantasievoll am Computer zusammenbauen läßt. Dicke erschaffen ihren Tarzan oder unterziehen sich gleich einer kompletten Transformation und gehen als Marylin auf die Cyberpiste, Vertreter mit Tierköpfen oder einem schlichten Bügeleisen auf dem Hals gehören zum virtuellen Alltag.
Allen Avataren ist gemein, daß sie sich in einer Welt bewegen, die eigens für sie geschaffen wurde. In solchen Welten wird viel gequatscht, aber auch getauscht und gebaut, je nach der benutzten Software und den geltenden Regeln der Welt. Der Avatar-Boom profitiert ganz entscheidend von den hohen Übertragungsraten und den immer größer werdenden Festplatten. Und er bildet erst den Anfang: Was passiert eigentlich, wenn jeder Arbeitsplatz oder Heimcomputer seinen ständigen Anschluß an das Internet oder einen Onlinedienst besitzt? Dies kann in fünf bis sechs Jahren der Regelfall sein. Selbst das heutige Schmalband-ISDN für den Heimanwender kann mit einem Router arbeiten, der fortlaufend die Verbindung zum Netz simuliert und schnell öffnet, wenn sie gebraucht wird. Der Unterschied zum Zeittakt ist enorm: Man geht einfach davon aus, daß der Service immer vorhanden ist.

Virtueller Zeitvertreib
Die Prognosen, wie der Fortschritt ausgenutzt werden kann, sind überaus einfallslos. Von Video on Demand ist da die Rede, von laufend aktualisierten Börsennews und anderen Nachrichten und von ungemein nützlichen Dingen. Dabei spricht nichts gegen eine virtuelle Realität, in der man sich mit seinesgleichen einfach nur zum Kaffeeplausch trifft. Die MIT-Forscherin Amy Bruckman untersuchte Chat- und Spielesitzungen in den "Arbeitspausen" und fand heraus, daß der schnelle Onlineausflug die Visite in einer Steh-Bar oder Cafeteria ersetzen kann.
Esther Dyson, Guru der amerikanischen PC-Szene, skizziert in ihrem Branchenblatt Release 1.0 ein Szenario, in dem sich Topmanager verschiedener Firmen in einer virtuellen Handelswelt aufhalten und Verträge abschließen. Last not least dürfen die virtuellen Militärwelten wie Dive (Dismounted Infantry Simulated Environment) nicht fehlen, in denen heute Kriegsführung im großen Stil geübt werden kann. Aus ihnen werden Börsensysteme wie VR-Traders entwickelt. Kurzum: Die virtuellen Welten mögen noch unbeholfen aussehen, doch sie stellen in mehrfacher Hinsicht die Killeranwendung der nächsten Pentiade.

Ave, Avatar!
Der Avatar ist eine Übernahme aus der hinduistischen Gedankenwelt. Dort bezeichnet er die Materialisierung von Göttern, die auf die Erde hinabsteigen und sich einen Körper zusammensetzen. Der Begriff wurde Anfang 1980 in den Computerbereich übertragen, als Militärprogrammierer nach einem Begriff für die menschlichen Artefakte in ihren Simulationsspielen suchten.
Der Avatar, wie er heute verstanden wird, hat eine ausgesprochen friedliche Wurzel: Im Jahre 1989 hatte der Student James Aspnes die Nase voll von den ewigen Schlachtereien der MUDs, der "Multiuser Dungeons and Dragons". In solchen Computerspielen metzelte man mit Hingabe Drachen und Monster nieder. Aspnes programmierte ein Szenario, in dem sterbliche Menschen mit realen Problemen ihre Rollen spielten. Auch wenn sich diese fiktive Mäntelchen umhängen konnten, begann eine überaus erfolgreiche Absatzbewegung von den Metzeleien und Rollenspielen, in denen Realität ausdrücklich verboten ist: In der Drachenwelt (ein MUD nach den Romanen von Anne McCaffrey) stirbt, wer ein Wort aus der schnöden Jetztzeit tippt.
Aspnes Welt war textbasiert, ein System, in dem alle Mitspieler die von ihnen geschaffenen Objekte wie auch die Aktionen und Reaktionen eintippen mußten. Sein MUD benutzte das Internet, über das sich die verschiedensten Menschen zum Mitkonstruieren der Kunstwelt einwählen konnten. 1992 erreichte die sozial orientierte MUD-Form im Internet ihren ersten Höhepunkt: 207 Welten wurden weltweit gezählt. Auch heute noch erfreuen sich die MUDs und MOOs, die MUSHes und nun auch die WOOs (Web-MOOs) ungebrochener Beliebtheit.

Die Heimat, Worlds Away
Die Ergänzung zum Text-Chat wurde in der MUD-Steinzeit anno 1980 konzipiert. Damals grübelten die Programmierer Randall Farmer und Chip Morningstar bei der Filmfirma Lucas Arts über Möglichkeiten, wie Personen mit dem Computer Filmszenen nachspielen könnten -- Dreamworks SKG läßt grüßen. Heraus kam Habitat (Heimat), eine Spielwelt mit einfacher Grafik.
Das Besondere an Habitat: Es war weit verbreitet auf den populären Homecomputern wie Commodores C64, C128 und den Ataris; es wurde später von Fujitsu Cultural Technologies aufgekauft und auf japanische Spielconsolen portiert. Sehr erfolgreich lief Habitat unter dem Namen "Club Caribe" auf Q-Link, dem Onlinedienst von Quantum Communication. Dort spielten bis zu 15000 Teilnehmer fünf Jahre lang ihre Rollen, bis Q-Link mit dem Untergang der Rechner seine Pforten schließen mußte -- als America Online wiederauferstanden, setzte man radikal auf Mac- und auf Windows-Systeme. Heute ist Habitat, um die erzählerischen Momente der MUDs erweitert, mit 65000 registrierten Benutzern die größte Spielwelt ihrer Art. Als Worlds Away kann sie über Compuserve erreicht werden, doch auch im Internet ist der Ausbau geplant. Dort hält die Alphaworld der Worlds Inc. den ersten Platz, der jedoch überall im Web Kolonien hat und daher schwer abzuschätzen ist.
Stark im Kommen ist die Welt a la Microsoft mit ihrem V-Chat 1.0. Neben den Interaktionswelten gibt es noch Systeme wie die Technosphere, die zur Experimentalkunst gerechnet werden können. Kommerzielle Beachtung verdient die Secure First Network Bank mit ihrem Avatar-Ansatz, mit dem auch bei der Deutschen Bank experimentiert wird. Interessant ist auch das World Up der Firma Sense 8, das Spezialisten für Netzwerkwartung um Remy Evard entwickelt haben: Diese Software setzen mittlerweile Cisco und CA Unicenter ein.

Faszination Rollenspiel
Läßt man die verschiedenen Spielregeln, Wettbewerbe, Werbeflächen und Verkaufsstände beiseite, so treten die Gemeinsamkeiten in allen Spielwelten schnell zu Tage. Die soziale Interaktion, das Rollenspiel und das Experiment mit verschiedenen Rollen dominieren die Welten aller Bauart.
Fast alle Welten geben so etwas wie eine eigene Zeitung heraus, mitunter über Anzeigen aus der Dreamscape (also der realen Welt) finanziert. Dann gibt es Welten, in denen ein Priester-Avatar am Sonntag einen Gottesdienst anbietet, der wiederum von anderen Avataren besucht wird. Einige Gottesdienste orientieren sich an den Weltreligionen, andere arbeiten mit Privatreligionen, doch immer wird ernsthaft und intensiv gebetet und diskutiert.
Die Heirat unter Avataren ist eine gängige Form der Onlineliebe, und selbst die nötigen Scheidungs-Avatare bieten ihre Dienste an. Avatar-Psychologen helfen, wenn jemand beim Besuch der virtuellen Bar ausfällig wurde. Und natürlich gibt es auch Ordnungshüter, die aber üblicherweise als Acolytes (Meßdiener), Engel oder gute Geister verniedlicht werden. Solche Acolytes sind wiederum Avatare, die mit besonderen Rechten ausgestattet wurden, also weit eher Herren als Diener. Selbst das Onlinebanking ist in dieser Form das Rollenspiel "Bankbesuch".

"Haltet den Dieb!"
Die Gemeinsamkeiten der Spielwelten gehen sehr weit: Als Rollenspiel attraktiv, sind Regelverletzungen an der Tagesordnung und sorgen ihrerseits für Gesprächsstoff. Und das nicht nur in den Spielbereichen, wie bei Microsofts V-Chat, wo der Avatar "Bill Gates" schon heftig Prügel einstecken mußte.
Als das PC Magazine auf der letzten Comdex seine "Technical Excellence Awards" verlieh, wählte man den Weg der virtuellen Preisverleihung mit der Software von Worlds Inc. Prompt suchten Hacker-Avatare die Zeremonie heim, worauf der Moderator-Avatar die Eindringlinge jagen mußte und dabei ein virtuelles "Haltet den Dieb!" brüllte. Auch die oft diskutierte virtuelle Vergewaltigung des Mr. Bungle* hat längst ihr Gegenstück in den Spielwelten gefunden. Unlängst wurde auf Worlds Away der Avatar Headhunter Chieftain in das virtuelle Nichts (Void) verstoßen, weil er den Kindersex propagierte (und obendrein den Diebstahl von Artefakten einführte). Ihm half die Beteuerung nicht, daß es nur um Sex mit Kinder-Avataren gehen würde.

* In der textorientierten Spielwelt Lambda-MOO hat Mr. Bungle zwei weibliche Teilnehmer in einem öffentlichen Raum vergewaltigt. Er beschrieb detailliert, was er mit den Figuren anstellte, und übertrug diese Beschreibungen auf die Spielrollen.

Spielwelten gehen an die Grenzen dessen, was im wirklichen Leben nicht mehr durchgespielt werden kann. Sie ähneln den Jagdveranstaltungen, bei denen sich die Schützen mit Farbkugeln bekleckern -- und sie werden mindestens ebenso ernsthaft betrieben. Sexuelle und soziale Probleme spielen die erste Geige. Schon die Programmierer von Habitat schlugen sich mit dem Problem herum, eine "saubere Welt" zu gestalten. Sie kamen beispielsweise auf die Lösung, daß Avatare nur stehen durften -- nun gibt es halt Sex im Stehen. Randall Farmer berichtet zu diesem Thema, wie mit der Einführung von Schußwaffen (die als unselige MUD-Erbschaft sonst überall verboten sind) eine bis dahin stabile Welt in Mord und Todschlag unterging. Eine andere, bis dahin "weiße" Welt löste sich auf, als der Programmierer verschiedene Hautfarben der Avatars zuließ (was wiederum dazu führte, daß das bekannte Spiel Simcity keine Hautfarben kennt).

Ein Fall für die Soziologen
Spielwelten als Experimental-Soziotope erregen natürlich das Interesse der Soziologen und Psychologen in aller Welt. Amy Bruckman, Elizabeth Reid und Allucquere Rosanne Stone gehören zu den bekannten Forscherinnen, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben.
In großem Stil aber lenkte erst das Buch von Sherry Turkle, Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet die Aufmerksamkeit auf die Spielwelten. Selbst der Playboy oder Harper's Bazaar rezensierten das Buch, mit dem der diffuse Cyberspace mit einem Schlag hoffähig zu werden schien. Turkle kletterte in die Sachbuchhitlisten, weil sie die Spielwelten und das Internet plastisch auf den kleinsten Nenner brachte: Die Teilnehmer würden für das nächste Jahrhundert üben, in dem die Fähigkeit zum Rollenwechsel, zum Verständnis anderer realer und auch virtueller Personen die wichtigste soziale Technik sein werde.
In ihrem Buch findet Turkle massenweise Menschen, die in den sozialen Umgebungen einer Spielwelt außerordentlich engagiert sind und tolle Lösungen für Konflikte finden. Doch vieles von dem, was Turkle diagnostiziert, ist Schöndenken. In einem Interview zu diesem Buch, das die Technological Review auf das Web gebracht hat, gesteht Turkle ihre Hilflosigkeit: Wenn das Surfen und der Umgang mit Avataren im großen Datenraum mit all seinen Facetten erst einmal so normal wie Autofahren geworden seien, dann würde schon der Funken überspringen, erklärt sie da. Phantasie offline?

Schluß mit lustig
Die kommerziellen Ansätze befinden sich noch in der Anlaufphase. Das gilt für Microsofts Virtual World Group ebenso wie für Fujitsus Cultural Technologies. Beide experimentieren vor allem damit, die Kinder in ihre Welten zu holen. Bei Fujitsu bastelt man an Teo herum, einem sprechenden Delphin mit Füßchen, der Kindern bei Schularbeiten in einer virtuellen Schulwelt auf die Sprünge helfen soll.
In Anspielung an eine mißlungene Software von Microsoft werden solche virtuelle Welten gerne als Online-Bobs kritisiert. In Japan hat das Konzept schon gezündet. Dort ist Frankys World der Firma Future Pirates (ein Joint-venture von Sony und Matsushita) eine laute und hektische Spielwelt, die schon 60000 jugendliche aufgenommen haben soll. Virtuelle Welten sind ideale Umgebungen für die expandierende Unterhaltungsindustrie Hollywoods, da sie Spieleumgebungen anbieten, in denen eine Filmhandlung weiterlaufen kann. Der Plan von Lucas Arts hat jetzt die technische Basis gefunden. Nach dem "Buch zum Film" ist die "Welt zum Film" nur noch eine technische Frage.
Was der Filmindustrie recht ist, ist dem Musikgeschäft nur billig. Marc Canter von Canter Technologies plant bereits eine weltumspannende Kneipenkette im Stil eines futuristischen Hard-Rock-Cafes, komplett mit Live-Show und interaktiven Rave-Sessions, bei denen die Avatare mitrocken können, Später, wenn die Rechner der Anwender etwas leistungsfähiger geworden sind, soll die interaktive Band-Technologie hinzukommen, die Canter mit seiner "Meet Media Band" propagiert.
Der Erfinder des Multimedia-Autorensystems Macromind Director programmierte interaktive Musikstücke, bei denen der Zuhörer in den Text eingreifen kann. Beim Szene-Hit "Undo Me" macht die Sängerin Allison Prince einen Mann an. 15 Antwortkombinationen sind möglich, bei denen das Musikvideo wie auch die Musik verändert werden. Der Nachteil: "Undo Me" und andere Songs der Ether-Rave-Technik erfordern eine Infrastruktur, die frühestens in fünf Jahren erreicht sein wird. Bis dahin kann der Avatar nur mitklatschen.

Schöne Aussichten
Natürlich gibt es auch Anstrengungen, die Dinge zu retten, die bei der Kommerzialisierung über Bord gehen können. So finanziert die ehrwürdige BBC das Spielwelt-Projekt "The Digital Village". Koordiniert wird diese virtuelle Stadt vom Schriftsteller Douglas Adams (Per Anhalter durchs All), der sich mit BBC-Autoren an dem Mix aus Fernsehen und virtueller Stadt versucht. Im Beirat des Projekts findet man den Musiker Peter Gabriel, Charles Fleischer von der ehemaligen Monthy-Python-Truppe und Kai Krause von der Firma Metatools. Im Herbst will man Eröffnung feiern.
[G D]


Literatur und Links

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